Matthias Bleyl
zur Ausstellung Galerie Forum Amalienpark, Berlin, 2011
Vor einigen Jahren begann Roland März einen Text mit dem Satz: "Kerstin Heller führt nicht die ‚Idee', sondern die Entdeckerlust im Zeichenhaften die Hand." (Lichtfaden, in: Ausst.-Kat. Kerstin Heller, Malerei 2004-2006, unpag.). Das trifft so genau den Kern ihrer Arbeit, daß es nicht einfach ist, dem noch Wesentliches hinzuzufügen. Doch ausgehend von dieser Erkenntnis seien hier die Formprinzipien der Künstlerin näher dargelegt.
Das Wort Formprinzipien kann allerdings in zweierlei Weise verstanden werden, nämlich einmal als Grundsätze ihrer Formen, und einmal als Grundsätze ihres Formens. Was die Grundsätze ihrer Formen betrifft, so bietet sich ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an Ausdrucksmöglichkeiten, wobei sich einige davon oft in Variationen wiederfinden, ohne daß daraus ein schlüssiges System abgeleitet werden könnte. Zu sehen sind etwa verschiedene Arten freihändig gesetzter Raster, Linien und Linienbündel, Punkte und Punktfolgen, Farbblöcke ohne präzise Geometrie, Bögen und kreisende Schwünge … Jedenfalls immer Formen, die aus natürlichen Bewegungen der Hand heraus entstanden sind und dies auch noch klar erkennen lassen.
Was die Grundsätze ihres Formens betrifft, die damit eng verbunden sind, so fallen an den Bildern das ausgeprägte Farbrelief, oft mit Häufungen und Kratzspuren in die noch frische Farbe auf, die auf ein viele Farbschichten umfassendes, prozessuales Wachstum hinweisen. Unter dem zuletzt Sichtbaren liegen ein oder mehrere Zustände, die sich bemerkbar machen, auch wenn bzw. gerade weil sie keine direkte Korrespondenz zum letztgültigen Zustand haben, also damit nicht deckungsgleich sind und sich eben dadurch unter einem andersartigen Farbauftrag abzeichnen. Die Künstlerin gestaltet ihre Bilder nicht aus einer vorgefaßten Idee heraus, die sie linear bis zum Ziel umsetzt, sondern schafft sprunghaft, mit zahlreichen Tilgungen, Korrekturen und immer wieder Neuansätzen.
Damit steht sie in einer Tradition, die sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen läßt. Während im damaligen Florenz unter dem Primat des vielfach theoretisch begründeten ‚Disegno' von einer vorgefaßten Idee ausgehend linear zum Ziel hin gearbeitet wurde, praktizierten die venezianischen Maler eine Art externalisierten Reifungsprozeß. Von Tizian ist bekannt, daß er seine Bilder mit einer nur grob skizzierten Komposition begann, die er immer wieder wegstellte und die Zwischenergebnisse von Zeit zu Zeit kritisch befragte, überarbeitete und zum Teil erheblich korrigierte, das Ziel also erst unter dem Malen entwickelte. Das gleiche Prinzip permanenter Veränderung bestimmte noch im 20. Jahrhundert beispielsweise die Malerei Pablo Picassos, belegbar etwa an den Zustandsfotos seines Bildes Guernica von 1937.
Der einem Bildtitel entlehnte Ausstellungtitel "Zwischen den Flüssen" läßt sich daher ohne nähere geografische Bezüge auch dahingehend verstehen, daß die gezeigten Arbeiten sich genau dort befinden, zwischen den Flüssen, und nicht nur denen der Farbe, sondern auch zwischen den Gedankenflüssen der Malerin, die sich schubweise an den Bildern manifestieren und damit zu vielgestaltigen, immer wieder überschriebenen – und grundsätzlich auch weiterhin überschreibbaren – Palimpsesten führen.
Wenn eine Malerei unter dem Primat einer vorgefaßten Idee steht, bedeutet dies eine quasi diktatorische Verfügung über die malerischen Mittel seitens des Künstlers. In dem hier vorliegenden Formprinzip äußert sich dagegen eine quasi demokratische Mitbestimmung, insofern dem Bild als einem immer nur vorläufigen die Möglichkeit der Mitsprache über die weitere Gestaltung gelassen wird, denn hier wird Farbe nicht nur eingesetzt, um ein von vornherein festgelegtes Ziel zu erreichen, sondern hier wird Farbe als Eigen-Energie ernst genommen und kann als Teilhaberin ihre zahllosen Möglichkeiten selbst äußern.